Auszug aus der Festschrift · Kapitel 5 ·  Gemeinsam Richtung Zukunft

Die Kraftwerksgruppe Sellrain-Silz

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Nach dem endgültigen Aus der Atomkraft in Österreich forderte unter anderem der Energiebericht der österreichischen Bundesregierung aus dem Jahr 1979 einen forcierten Ausbau der Wasserkraft im Land, und auch TIWAG konzentrierte sich wieder auf ihr Kerngeschäft und auf das bisher ambitionierteste Projekt des Unternehmens.3

Bereits in der Zwischenkriegszeit hatten die Österreichischen Bundesbahnen sowie die Studiengesellschaft Westtirol Pläne geschmiedet, die beiden im Norden der Stubaier Alpen gelegenen Finstertaler Seen als Speicherseen energiewirtschaftlich nutzbar zu machen. Doch es mangelte noch an den technischen Möglichkeiten, die Seen mit ihren geringen Zuflüssen effizient zu nutzen. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis schließlich TIWAG einen neuen Anlauf in diese Richtung unternahm.4 Jener war auch notwendig geworden, hatte sich der Stromverbrauch seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs doch mehr als verzehnfacht und sollte bis ins Jahr 1985 gar fünfzehnmal so hoch sein wie noch 1946. Jene Steigerung betraf nicht nur Industrie und Gewerbe, auch der Energiehunger der privaten Haushalte war, bedingt durch deren zunehmende Elektrifizierung, stetig angewachsen.5

Der Speicher Längental nach seiner Fertigstellung & Arbeiter bei der Errichtung des Schachtes für das Werk Kühtai. 

Dem Problem des geringen Einzugsgebietes wollte man nun mit der Errichtung des Zwischenspeichers Längental begegnen, der neben den eigenen Zuflüssen zum großen Teil durch vier Beileitungen gespeist werden sollte. Je nach Bedarf würde das hier gesammelte Wasser entweder direkt dem zu errichtenden Unterstufenkraftwerk Silz zugeführt oder durch das geplante Pumpspeicherwerk Kühtai durch einen Druckschacht zur späteren Verwendung in den Speicher Finstertal gepumpt werden.6

Im Juli 1973 wurde das Projekt wasserrechtlich genehmigt, woraufhin im folgenden Jahr die Vorarbeiten und Detailplanungen begannen, wobei es zu einigen Änderungen des ursprünglichen Plans kam.

So sahen die neuen Pläne unter anderem vor, die Talsperre Finstertal als 149 Meter hohen Steinschüttdamm auszuführen und das Kraftwerk Kühtai, ursprünglich als Kaverne geplant, als Schachtkraftwerk dicht am Ufer des Speichers Längental zu errichten. Der Zwischenspeicher Längental wurde überdies von einer auf drei Millionen Kubikmeter vergrößert. Das Kraftwerk in Silz wurde komplett umgeplant. Das kommende Unterstufenkraftwerk sollte nun, angetrieben von sechsdüsigen Peltonturbinen, eine Leistung von 470 Megawatt aufweisen, somit in diesem Punkt das Kaunertalkraftwerk übertreffen und zu den leistungsstärksten Kraftwerken in Österreich gehören.

Gigantisch nehmen sich die Anlagen des Kraftwerks aus.

Der Speicher Längental mit dem Schachtkraftwerk Kühtai.

Obwohl im Jahr 1975 bereits Vorarbeiten durchgeführt worden waren, konnten die Bauarbeiten, aufgrund von zusätzlichen Umplanungsarbeiten, geologischen und hydrologischen Untersuchungen sowie Modellversuchen erst am 21. Juli 1977 starten.

Mit dem ambitionierten Kraftwerksprojekt beschritt TIWAG technisches Neuland. So erhielt die Talsperre Finstertal im Gegensatz zum nur vier Meter höheren Damm des Gepatschspeichers keinen Dichtungskern aus Schüttmaterial, sondern eine innenliegende Membran aus Bitumenbeton. Diese Bauweise war in vergleichbarer Dimension in Österreich bis dahin noch nie und weltweit nur zweimal ausgeführt worden. Somit waren umfangreiche Versuchsreihen an in- und ausländischen Instituten notwendig, um die Sicherheit der Konstruktion zu gewährleisten.

Auch betreffend die maschinelle Ausstattung des Pumpspeicherkraftwerks Kühtai – des damals größten Vertreters dieses seltenen Typs – mussten, aufgrund der erforderlichen hohen Leistung und starken Beanspruchung, zahllose Versuche am Modell durchgeführt werden, deren Ergebnisse in die Konstruktion der Pumpenturbinen einflossen. Das Krafthaus Silz wiederum erforderte eine enorm hohe Leistungsfähigkeit hinsichtlich der beiden Maschinensätze von je 266 Megawatt und setzte neue Maßstäbe in der Entwicklung von Peltonturbinen. Darüber hinaus verwendete TIWAG hier erstmals eine direkte Generator-Wasserkühlung.7 Der Bau der insgesamt 40 Kilometer langen Stollen und Schächte war ebenfalls eine Herausforderung und erforderte den Einsatz von vier Tunnelfräsen, was einen Durchbruch in der Frästechnik in Österreich darstellte.8 Bei der Errichtung des Druckstollens der Oberstufe kam überdies eine Stollenfräse zum Einsatz, die extra in den USA angefertigt worden war.9

Das Kraftwerk Silz.

Bei seiner Fertigstellung war der Finstertaler Staudamm weltweit nicht nur der höchste mit Asphaltbetonkerndichtung – die erstmals durchgängig schräg konstruiert worden war – sondern musste auch mit einer Million Tonnen der höchsten Wasserdruckbelastung standhalten.

Nach rund dreieinhalbjähriger Bauzeit konnte am 20. Januar 1981 die erste von insgesamt vier Maschinen der Kraftwerksgruppe Sellrain-Silz in Betrieb genommen werden. Bis in den Mai desselben Jahres hatten alle Maschinen die Arbeit aufgenommen. Nachdem der Speicher Finstertal am 10. September vollständig aufgestaut worden war, ging die Kraftwerksgruppe am 1. Oktober 1981 in den Vollbetrieb über.

Die beeindruckende Anlage zog in den folgenden Jahren zahlreiche Besucher an. So besichtigten jährlich rund 10.000 Menschen die Kraftwerksgruppe. Die von TIWAG gebaute Werkstraße von Kühtai zur Dammkrone des Speichers Finstertal wurde in den 1980er-Jahren darüber hinaus von Reifen- und Automobilunternehmen sowie von Autofachzeitschriften angemietet, um Prototypen und neue Produkte zu testen.10

Übersicht über die Oberstufe mit den beiden Speicherseen.

Test 1

Fußnoten

  • (3) Vgl. ebd., S. 170.
  • (4) Vgl. ebd., S. 162.
  • (5) Vgl. Nussbaumer Josef: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Tirols 1945–1985. Ausgewählte Aspekte. Innsbruck 1992. S. 158 ff.
  • (6) Vgl. Tiroler Wasserkraftwerke Aktiengesellschaft (Hg.): Strom für Tirol. Die Kraftwerksgruppe Sellrain Silz. Innsbruck 1982. S. 7.
  • (7) Vgl. Pallua Irene: Elektrizität für Tirol. Eine Geschichte der Tiroler Wasserkraft AG seit 1924. Innsbruck 2022. S. 162 ff.
  • (8) Vgl. Pircher Wolfgang: 75 Jahre im Dienst der Tiroler Energieversorgung. Die Baugeschichte der TIWAG-Kraftwerke. Innsbruck 1999. S. 7 f.
  • (9) Vgl. Pallua Irene: Elektrizität für Tirol. Eine Geschichte der Tiroler Wasserkraft AG seit 1924. Innsbruck 2022. S. 168.
  • (10) Vgl. Pallua Irene: Elektrizität für Tirol. Eine Geschichte der Tiroler Wasserkraft AG seit 1924. Innsbruck 2022. S. 168 f.